David
hatte sie unbewusst aber zielgenau "erwählt", um sein eigenes
verletztes Ich wieder aufzubauen und in neuem-altem Glanz erstehen zu
lassen. Das war ihm gelungen, nun begann die Zeit, sich wie zuvor um die Schönheiten dieser Welt zu kümmern und nicht um einen Krüppel, die einer Klette gleich an ihm hing und die Freude am Leben auf Dauer in nicht zu duldender Weise einschränkte!
Sie war am Strand des Sees angekommen, an dem sie sich noch vor drei Monaten nachts geliebt hatten, auch als Radfahrer auf den Fusswegen fuhren. Sie hatte auf ihren Stumpf geschaut, auf Davids muskulösen Bauch, sein Schamhaar, das sich bei seinen Stößen mit dem ihren vermengte, sein tiefer Atem und hielt ihn umschlungen: Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich in dieser Art geborgen, eins mit der Welt, erregt, durchtränkt von Lust gefühlt in jenem späten Sommer am See.
"On the
lakeside, as daylight broke, I saw the earth, the trees had burned down
to the ground." ging ihr wieder durch den Kopf. In ihrem Leben musste es noch nicht einmal daylight werden, bis ihre Bäume in Schutt und Asche gelegt.
Das war die Art zu denken von der ihre Bekannten und Freunde sagten, sie sei selbstmitleidig. Im Trost suchen und Trost finden war sie vermutlich ebenfalls ein loser, dachte sie bitter. Sie hatte bei einem Autor im Internet die Auffassung gefunden, dass nichts sinnlos sei, alles diene der Evolution, als deren Ziel dann eines fernen Tages Gott erstrahlen werde, an dem alle Anteil haben würden, die das wünschten. Was aber hatte sie heute davon, wenn ihr der Schmerz, der Kummer die Kehle zudrückte, wenn ihr ganzes Auftreten gehemmt, linkisch, verängstigt, fahrig und sie nachts nur noch mit einem Schlafmittel zur Ruhe fand. Wie sollte es weitergehen?
"Ich werde sehen, ich werde es sehen!" sagte sie laut und begann langsam die Jacke abzustreifen! Nachdem der Entschluß einmal gefasst, zog sie sich aus, schnallte die Prothese ab und hüpfte in gleicher Weise ins Wasser, drehte sich und ließ sich rücklings fallen, wie sie es im Sommer schon oft getan. Die Kälte war derart, dass sie nach Luft rang und ihre Arme rasch bewegte. Nach kurzer Zeit konnte sie mit ihrem Fuss den Boden nicht mehr erreichen und sie entfernte sich weiter vom Ufer! Der Kälteschmerz war allumfassend, ihre Atmung wurde flach, sie spürte nun vor allem ihre Sehnen, die sich anfühlten, als könnten sie reißen, sie spürte, wie Hände und Füße ertaubten und es ihr nicht mehr richtig möglich, Schwimmbewegungen aus zu führen. "Jetzt, jetzt", dachte sie, "jetzt entscheidet es sich!" Dann wollte sie schreien, war aber schon zu schwach, doch sie dachte und japste: Hedonist! Hedonist, David ist ein Hedonist!. Sie japste, spuckte, spürte ihre Hände nicht mehr, begann aber zurückzuschwimmen:
Nichts ist sinnlos, wenn aber nichts sinnlos, dann bin auch ich nicht sinnlos, auch wenn ich ein loser bin! Nichts ist sinnlos. Mein Leben ist nicht sinnlos!
Ihr Herz fühlte sich angestrengt an, sie befürchtete, es würde aufhören zu schlagen, sie konnte sich nicht mehr effektiv in Richtung Ufer fortbewegen, weil ihre Arme nicht taten, was sie wollte, so als wäre sie in allen Gliedmaßen gelähmt, wie im Alptraum. Sie begann statt zu schwimmen, sich möglichst heftig zu bewegen, um dadurch den Kreislauf zu stützen, Wärme zu erzeugen und während sie auf der Stelle mehr oder weniger strampelte, spürte sie plötzlich Grund, das Wasser musste hier etwas flacher sein. Dadurch konnte sie sich abstützen und mit ihrem einen Bein ein wenig Richtung Ufer hüpfen. Nach mehreren Hüpfern war sie mit den Schultern aus dem Wasser, konnte die Arme herausheben und schütteln und gegeneinander schlagen, sie sah, dass sie die Finger wieder leicht krümmen konnte. "Ich schaffe es, ich schaffe es noch!" dachte sie, hüpfte erneut und ließ sich dann nach vorne fallen, so dass sie langsam ans Ufer kriechen konnte.
"Ich muss mich abreiben, am ganzen Körper abreiben, damit die Blutzirkulation wieder bis zu den Muskeln kommt, sonst lähmt mich die Kälte" und sie nahm ihre Unterhose und rubbelte, bis an einigen Stellen ihre Haut wieder rötlich zu schimmern begann.
"Hedonist" dachte sie wieder, "aber ich habe versucht mich selbst zu töten", dachte sie ebenfalls und indem sie das dachte, im Maße, wie ihr Herz und ihre Blutzirkulation ihren regulären Dienst wieder aufnahmen, begann ein Gefühl inneren Friedens durch sie zu strömen: Wir sind Menschen, alle, David und ich, jede und jeder mit seinen eigenen Fehlern und Schwächen. Auch wenn wir Fehler machen, uns irren, das Leben grausam ist, es hat einen Sinn. Ich möchte leben, ich möchte daran mitarbeiten, dass amputierte Glieder einmal nachwachsen können und ihr schossen bei diesem Gedanken wieder Tränen in die Augen. David hatte sie einmal ausgelacht, als sie ihm das gesagt hatte, das sei doch Unsinn, er hatte sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, im Internet nachzuschauen, ob das doch möglich sein werde. Und sie wollte ihn nicht weiter damit belästigen, sie wagte es nicht, ihn dadurch vielleicht zu verärgern. Sie aber wollte, dass eines Tages abgerissene Glieder bei Kindern und Erwachsenen nachwachsen könnten. Daran wollte sie mitarbeiten, helfen und wenn es nur darin bestünde, die Zellkulturen anzulegen und abends die Reagenzien fortzuräumen.
Und sie würde in Zukunft sich bekennen, dass sie das wollte, aus ganzem Herzen und mit der Kraft, die sie dafür aufzubringen vermochte, denn sie war stark und schwach zugleich!