Die Narzissen waren gelb leuchtend erblüht, aber dort, wo
die lanzettartigen grünen Laubblätter aus dem Boden traten, lag an mehreren
Stellen etwas Schnee, denn es hatte noch einmal stark geschneit vor drei Tagen,
Ende März, dem Tag, an dem Stella verschwunden war. Alina, die Mutter von
Stella, stand am Fenster des Wohnzimmers, blickte hinaus auf diesen von der
späten Nachmittagssonne erleuchteten Gruß des Frühlings, während warme Zimmerluft
angenehm sanft vom Heizkörper, der unter dem breiten und tief reichenden
Fenster angebracht, zu ihr herauf strömte.
Zwei Nächte war Stella verschwunden, hatte sie nicht in
ihrem Bett geschlafen, nicht in ihrem Zimmer, nicht im Haus, sondern war da
draußen, irgendwo, ohne Mama, ohne Papa! Einen Moment lang, als Alina das
schöne Bild aus Schnee, Narzissen, Sonne eingebettet von der Wärme und Ruhe des
Hauses umfing, dachte sie, dass es vorbei: Mit der Schönheit der Natur kehre
auch das Gute, die Liebe zurück und es drängte in ihr, „Stella“ zu rufen, so
als ob sie in ihrem Zimmer und hinunter gelaufen käme, um sich an sie zu
schmiegen.
Als ihr klar wurde, wie nahe sie war, eine Grenze zu
überschreiten zwischen der Welt des Grauens, in der sie sich befand, und einer
Welt, die sie selbst formte, nach ihrem Dünken, einer Welt der Geborgenheit und
ewigen, unzerstörbaren Liebe, in der Stella ihr entgegengelaufen käme und sie
einander umarmten, warf sie ihren Kopf zurück, wie um sich wach zu schütteln,
heraus zu reißen aus einem Sog: Sie wusste, dass sie fähig, die Realität zu
verlassen, weil sie nicht mehr leben konnte in ihr. Entweder würde sie sterben vor
Schmerz oder sie musste die Welt gegen eine andere Welt eintauschen, eine
bessere! Willig ließe sich ihr Geist brechen, um in der eigenen, besseren Welt leben
zu können, abgetrennt von dem, was Wirklichkeit genannt! Aber sie durfte nicht,
noch nicht, denn vielleicht kehrte Stella zurück! Auch wenn die Qualen der
Folter mit dem Warten auf ihre Rückkehr verbunden: Solange hatte sie zu warten,
bis Gewissheit, das schuldete sie Stella.
„Goran, wann kommt die Polizei, ich habe es wieder
vergessen“, rief sie heiser und nur halblaut zur Küche, so dass er sie nicht
verstand und sie ihre Frage wiederholen musste.
„Sie müssten eigentlich schon da sein, sicher gleich, aber
warte doch hier bei mir. Trink einen Schluck, ich habe Tee gemacht!“
Alina ging zur Küche, schaute in das Gesicht ihres Mannes,
der sich seit Stellas Verschwinden nicht mehr rasiert, noch die Haare gewaschen,
so dass sie fettig und abgeplattet seinen Schädel bedeckten, während an den
Seiten die helle Kopfhaut durch schien. Sein Atem war nicht mehr rein, da er wie
sie seit drei Tagen fast nichts mehr gegessen und seine Haltung war die eines
kranken, siechen Mannes, dessen Schultern keine Last mehr zu tragen vermochten
sondern nach vorne hingen. Wahrscheinlich hatte er wieder leise geweint, ein
Weinen, das er unterdrückte und man erst im Nachhinein, wenn er sich gefangen
und aufblickte, an den roten Augen und deren Schwellung erkannte!
Goran hatte Stella von der Kita abholen müssen und obwohl er
pünktlich gewesen war, um Viertel nach drei hatte er die Eingangstür zur Kita
geöffnet, das hatten die Videoaufzeichnungen bewiesen, war er doch später als
sonst gewesen, da sein Wagen nicht angesprungen, er erst den Hausmeister der
Firma um Starthilfe gebeten und vermutlich auf diese Weise 10 bis
15 Minuten verloren, ein Zeitraum, der möglicherweise Stella verunsichert, so
dass sie mit einem anderen Elternpaar und deren Kind hinausgelaufen, vor der
Kita sich nach links wand in Richtung eines kleinen Geschäftes, wo sie auch
gewesen, soweit sich der Besitzer erinnern konnte, ohne etwas zu kaufen und war
seitdem verschwunden, bisher unauffindbar verschwunden!
In der zweiten Nacht von Stellas Verschwinden hatte Alina begonnen,
Goran Vorwürfe zu machen, warum er nicht sofort angerufen, als klar war, dass
er später als gewöhnlich käme und ihre Anwürfe gegen ihn soweit gesteigert,
dass sie ihn für schuldig erklärte, falls Stella etwas zustieße, woraufhin er
schließlich schweigend das Schlafzimmer verlassen, für den Rest der Nacht ins
Gästezimmer gegangen und seitdem nur noch wenig mit Alina gesprochen hatte:
Beide konnten schon bald nach Stellas Verschwinden kaum noch Gefühle des
gegenseitigen Trostes aufbringen sondern wurden von Wellen der hilflosen Wut
übermannt, die am jeweils anderen zerbarsten. Um sich auf diese Weise nicht zu
zerfleischen, hatten sie begonnen, sich aus dem Wege zu gehen.
Goran bot Alina eine Tasse mit heißem Tee, zitterte aber
erheblich, setzte sie aus diesem Grunde gleich wieder auf den Tisch, fragte, ob
sie Honig möchte, als die tieftönende Eingangsglocke erklang. Das musste die
Polizei sein, die vor einer halben Stunde angerufen und ihr Kommen angekündigt.
Warum, hatte man nicht gesagt.
Alina konnte und wollte das nicht ertragen, darum sagte sie:
„Ich gehe in Stellas Zimmer.“, worauf Goran leise mit „Gut!“ antwortete. Sie
stieg die hell marmorierten Treppenfliesen hinauf, öffnete die Tür zu Stellas
Zimmer, trat ein, ohne sie aber ganz wieder zu verschließen und setzte sich auf
Stellas Bett. Unten hörte sie ein paar mal Gorans Stimme und die der Polizisten,
es musste eine Frau dabei sein, ohne dass sie aber verstand, was sie genau
sprachen. Auf Stellas Bett lag der braune Bär, den sie im Schlaf umarmt hielt
und dem mittlerweile ein Auge fehlte, neben das Bett hatte sie ein Tischchen
gestellt, auf dem sie ein kleines Anzuchtgewächshaus für Kinder platziert und
in dem sie Kresse gezüchtet hatte, die sie zwar an vielen Stellen zu dicht
gesät, sie aber doch liebevoll und zuverlässig pflegte, so dass ein grüner Teppich
emporgewachsen, was sie begeistert und wovon sie nun, zu Ostern, eine erste
Ernte, wie sie sagte, für den Festtagssalat zur Verfügung stellen wollte. An
der Wand hing ihr Foto, das sie in der Kita zusammen mit ihrer besten Freundin
aufgenommen, den Kopf leicht zu ihrer Freundin geneigt, die ihren Kopf
ebenfalls zu ihr gebeugt, so dass sich ihr Haar berührte. Beide
lächelten, voll des Vertrauens in ihr Leben.
Mit der flachen Hand strich Alina mehrfach über die krautige
Kresse und griff dann plötzlich hinein, riss die kleinen Pflänzchen heraus und
quetschte sie in ihrer Faust, begann alles in ihrer Hand zu reiben und mahlen.
Dann öffnete sie die Faust, schaute auf die verunstalteten Pflanzen und ließ sie
in die Gewächswanne zurückfallen. Etliche der kleinen weißen Würzelchen ragten
grotesk in die Luft.
Vom Wohnzimmer hörte sie keine Stimmen mehr, nach einer
Weile aber Goran etwas im Flur sagen, dann die Polizisten, hörte wie die Haustür
geöffnet, geschlossen und Goran die Treppe hinauf stieg. Er wartete vor der Tür,
schob sie dann langsam auf, trat ein und setzte sich neben Alina auf das Bett. Sie
hatte sich, als er hereingekommen und sich neben sie setzte, weit vorgebeugt,
den Kopf tief herab sinken lassen und fuhr mit ihrem Ringfinger über den
Kirschholzboden. Langsam begann sie, sich wieder aufzurichten, wand den Kopf
und schaute von der Seite auf Gorans Gesicht.
Runde, schwere Tränen, die sich
an seinen unteren Augenlidern bildeten, fielen herab oder rollten über die
Wangen und fielen erst dann auf seine helle, besche Hose, wo sie kleine dunkle Punkte erzeugten.
Als jetzt eine Träne sich löste, hörte sie das dumpfleise Geräusch ihres Auftreffens.
„Stella kommt nicht mehr, nie mehr!“ sagte Alina, so, als
wollte sie ihm diese Nachricht mitteilen!
Goran versuchte zu antworten, aber sein Mund war stark mit
Speichel gefüllt. Er straffte sich, begann über sein Gesicht zu wischen, schnäuzte
die Nase mit einem papiernen Taschentuch, das er zuvor schon einmal benutzt haben
musste.
Alina sagte noch einmal hastig: „Stella kommt nicht mehr!“,
hart, grausam zu sich und zu ihm!
„Stella kommt nicht mehr! Nie mehr!“ antwortete Goran.
„Aber sie wird leben! In Ewigkeit!“ fügte er nach einer
Weile hinzu.
Warum musste er, nachdem sie sooft darüber gesprochen und
gestritten, das jetzt zu ihr sagen und sie wusste nicht, ob sie ihn dafür hasste
oder liebte!