Die "Süddeutsche Zeitung" sprach von einer Sensation, als Jan Wagner den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt, in diesem geschichtsträchtigen Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nach der Geburt unseres Erlösers!
Nun, und ich sage völlig zu Recht, erhält Jan Wagner auch den Büchner Preis, den Preis benannt nach jenem Dichter, der den Palästen den Krieg erklärt, der Danton sprechen lässt: "Adieu, mein Freund! Die Guillotine ist der beste Arzt." - Dantons Tod, 4. Akt, 7. Szene und im Hessischen Landboten erklärt: "Das Gesetz ist das Eigenthum einer unbedeutenden Klasse von Vornehmen und Gelehrten, die sich durch ihr eignes Machwerk die Herrschaft zuspricht." - (Hessischer Landbote, Erste Botschaft. Darmstadt, im Juli 1834. S. 2)!
Jan Wagner wird geehrt mit dem renommiertesten Preis der deutschen Literaturkritik, gemahnend, dass Zeiten und Literatur sich ändern:
Während Büchner ungestüm, ja fast ungebärdig zu nennen, sind es leise Töne bei Herrn Wagner, fast bin ich geneigt in väterlicher Sympathie Jan zu sagen:
Kapitalismuskritik, neue Gesellschaftsordnung, Energiewende und Migration sind Themen, die in der Ferne sich relativieren, das Auge richtet sich nach innen, auf die eigenen Organe, den Darm, das Herz!
So steckte sich Tante Mia wohl einmal versehentlich ein erblühtes Weidenkätzchen in ein Nasenloch, das dann weiterwanderte, ein kleines Drama des Alttags.
Jan bringt das in folgende Verse:
"warum sich tante mia wann genau
ein weidekätzchen in die nase steckte,
verschweigt die geschichte. sicher ist: es wich,
je mehr sie es zu fassen suchte, stetig
zurück in seine dunkelheiten, weich
und weiß, ein hermelin in seinem bau."
Ein Hermelin in seinem Bau. Wir spüren sofort, wie naturnah der Autor empfindet und vermögen von Tante Mias verzweifeltem Bemühen, das Weidenkätzschen wieder aus dem Nasenloch herauszubekommen zu abstrahieren, uns statt dessen das Hermelin vorzustellen in seinem Bau!
Das ist hohe Kunst des Schreibens: Menschen und Liebhaber der Kunst herausheben aus der Welt des banal Bedürftigen in die Welt des Kunstvollen und Erhabenen, denn die Unersprießlichkeit des Alltags bedarf des Gegengewichts durch Kunst der Lyrik und des Romans.
Das Leiden, das uns immer wieder zu übermannen droht, gehört umgeformt und in einen höheren Sinn gestaltet bzw. in den Worten des diesjährigen Büchner-Preisträgers:
"es gibt die Konstellationen
des südlichen und des nördlichen himmels,
und es gibt sie: die silberdisteln."
in "Regentonnenvariationen" und
weiter:
"ich hob den deckel
und blickte ins riesige
auge der amsel."
"ich hob den deckel,
zuckte zurück. der amsel-
gesang dunkelte."
Im sich dunkler färbenden Jahrhundert, global und europäisch, individuell wie soziologisch, ist das ein Lichtblick deutscher Sprachkunst!