Dienstag, 8. Dezember 2015

Tolstoi und das Nichts!

"Nichts! Nichts ist ihm geschehen, oder eigentlich – furchtbarer noch: – das Nichts. Tolstoi hat das Nichts erblickt hinter den Dingen. Etwas ist zerrissen in seiner Seele, ein Spalt hat sich nach innen aufgetan, ein schmaler schwarzer Spalt, und zwanghaft starrt das erschütterte Auge hinein in dies Leere, dieses Andere, Fremde, Kalte und Unfaßbare hinter unserem eigenen warmen, durchbluteten Leben, in das ewige Nichts hinter dem flüchtigen Sein. 

Wer einmal in diesen unnennbaren Abgrund geblickt, der kann den Blick nicht mehr abwenden, dem strömt das Dunkel in die Sinne, dem erlischt Schein und Farbe des Lebens. Das Lachen im Munde bleibt ihm gefroren, nichts kann er mehr greifen, ohne dies Kalte zu fühlen, nichts kann er mehr schauen, ohne dies andere mitzudenken, das Nihil, das Nichts. Welk und wertlos fallen die Dinge aus dem eben noch vollen Gefühl; Ruhm wird zum Haschen nach Wind, Kunst ein Narrenspiel, Geld eine gelbe Schlacke und der eigene atmende gutgesunde Leib Hausung der Würmer: allen Werten entsaugt diese schwarz unsichtbare Lippe Saft und Süße. Die Welt erfrostet, wem einmal mit aller Urangst der Kreatur dieses furchtbare, fressende, nächtige Nichts sich aufgetan, der »Maelstrom« Edgar Allan Poes, der alles mit sich reißende, der »gouffre«, der Abgrund Pascals, dessen Tiefe tiefer ist als alle Höhe des Geistes.

Vergebens dawider alles Verhüllen und Verstecken. Es hilft nichts, daß man dies dunkle Saugen dann Gott nennt und heiligspricht. Es hilft nichts, daß man mit Blättern des Evangeliums das schwarze Loch überklebt: solches Urdunkel durchschlägt alle Pergamente und verlöscht die Kerzen der Kirche, solche Eiskälte von den Polen des Weltalls läßt sich nicht wärmen am lauen Atem des Worts. Es hilft nichts, daß man, um diese tödlich lastende Stille zu überschreien, laut zu predigen beginnt, so wie Kinder im Walde ihre Angst übersingen. Kein Wille, keine Weisheit erhellt mehr dem einmal Erschreckten das verdüsterte Herz.

Im vierundfünfzigsten Jahre seines weltwirkenden Lebens hat Tolstoi zum erstenmal dem großen Nichts ins Auge geblickt. Und von dieser Stunde an bis zu jener seines Absterbens starrt er unerschütterlich in dieses schwarze Loch, in dies unfaßbare Innerliche hinter dem eigenen Sein." so beschreibt Stefan Zweig den Kampf des Dichters Leo Tolstoi mit dem Nichts.

Es erinnert an einen Kampf mit dem Teufel, an einen Kampf um Gott!

So aber, wie es den Teufel nicht gibt, es die Hölle nicht gibt, es Gott nicht gibt, sondern allein geben wird,

so gibt es das Nichts nicht und hat es nie gegeben, denn immer, wenn etwas ist, zum Beispiel die Zeit, dann ist etwas und nicht Nichts!

Das Nichts wird es nie geben, denn wenn es etwas geben wird, ist ebenfalls nicht Nichts!

Einigen Menschen fehlt das Vertrauen in Gott, seine zukünftige Existenz, deswegen fürchten sie das Nichts, eine Folge der noch unzureichenden Evolution unseres Bewusstseins.

Erst muss man sich überzeugen, dass es Gott geben wird, dann darf man sich um die Frage des Nichts kümmern, ohne Schaden zu nehmen! 

Zweig schreibt über den Tod des Leo Tolstoi:

"Hin sinkt das weißumloderte Haupt in die Kissen, die Augen verlöschen, die wissender als alle die Welt gesehen. Und nun erst weiß der ungeduldige Sucher endlich die Wahrheit und den Sinn alles Lebens."

Das ist nicht richtig: Bis wir wissen werden, sind wir tot und ohne Bewusstsein, bis zum Ende der Tage, dann, wenn Gott verwirklicht werden wird.

Ist tot zu sein, nicht das Nichts, für die individuelle Seele? Nein, denn alles, was war, und sei es noch so scheinbar unbedeutend, alles wirkt fort!