Dienstag, 15. Januar 2019

Warum ich meinen Vater verteidige!

Warum verteidige ich meinen Vater und damit zugleich meine Mutter, wenn ich doch in einer Familie aufgewachsen, die mich krank gemacht hat, wenn beide Eltern auch ungerecht waren, Lieblinge hatten, zu denen ich nicht gehörte, wenn ich schon früh glaubte, mich selbst töten zu müssen, vor Scham, vor Einsamkeit und tiefer Beklemmung, weil Angst an meiner Seele fraß und ich dachte, irgendwann halte ich es nicht mehr aus, es aber doch aushielt, bis Alkohol mein Freund wurde und ich nur noch Angst hatte, wenn mein Freund lange abwesend war.

Auch heute, so viele Jahre nach seinem Tod, höre ich seinen Husten, schon lange vor dem Aufstehen um halb sechs, wenn er sicher noch müde war und vielleicht erst spät eingeschlafen, weil im Haus mit sechs Kindern oft spät alle zurück, in ihren Betten und Ruhe. 

Manchmal wurde aus der Ruhe das Gefühl tiefen Friedens, Weihnachten oder Ostern, wenn wir zusammen gesungen oder draußen der Wind ums Haus blies, während wir alle in der Wohligkeit unserer Betten geschützt und uns einander gewiss, dass uns entweder nichts geschähe, wenn Donner und Blitz, oder wir zusammen uns schon zu helfen wüssten, wenn doch ein Unglück. In der Not würden wir zusammenhalten und gemeinsam kämpfen.

Oft wachte ich von Vaters Husten auf, Folge des Rauchens, Folge des Asbeststaubes, den er eingeatmet, da Asbest in der chemischen Fabrik als Brandschutz genutzt wurde, Folge des Chlors, das er im "Chlorbau" eingeatmet, wo es zwar giftig aber wärmer als draußen im Winter, wo die Hände aufsprangen und schmerzten beim Arbeiten, dass so mancher sich keine andere Hilfe wusste, als über die aufgesprungenen Stellen zu pinkeln, das gab wenigstens einige Sekunden Wohlgefühl und Erleichterung. 

Einmal wäre Vater der Arm abgerissen worden, wenn der Handschuh, der in den Betonbohrer geraten war, sich nicht doch noch von der Hand gelöst hätte. So hatte er den Oberarm verdreht und gebrochen, der Arm aber war noch dran.

Manchmal lag Vater, schon einige Jahre jenseits der fünfzig, mit Mamma auf dem großen Sofa und fragte, ob ich ihm ein Bier aus dem Keller holte und mehr als einmal hörte ich, wie er sagte, er fühle sich so müde, so zerschlagen, dass er am liebsten nur noch liegen bleiben würde, er fühle, wie er alt werde. 

Aber er musste noch einige Jahre weiter arbeiten, ehe er in Rente ging.

Als er dann Anfang der siebzig Krebs bekam, vielleicht auch vom Asbest, versuchte er noch einmal zu kämpfen, weil er die Amseln so gerne singen hörte und es November war, als er schwächer und schwächer auf dem Sofa liegen bleiben musste. 

"Noch einmal die Amseln im Frühjahr ihr Lied singen hören."

Er starb im Februar.

Darum verteidige ich Vater - meinen Vater!


Johannes Stenkamp, 19. Juni 1926, 11. Februar 1998


"Es gibt ein Land der Lebenden
und ein Land der Toten,
die Brücke ist die Liebe;
nur in ihr überleben wir,
und nur sie gibt dem Leben 
einen Sinn."