Freitag, 29. Mai 2009

Der Pianist - Kurzgeschichte

Georg hatte mich angerufen: „Ich habe eine Überraschung für Dich!“

„Ah ja, was ist es denn?“

„Weißt Du, wer uns für heute Abend eingeladen hat?“

„Nein, sonst wäre es ja wohl auch keine Überraschung, aber lass mich raten. Hmm, Gräfin Esterházy?“ Das war als kleiner Scherz von mir gemeint, doch Georg rief: „Gut, fast, fast getroffen: Franz-Joseph Wedel, Idol und Angebeteter der Gräfin, so wie man behauptet, der Pianist!“

Ich stutzte, Gräfin Esterházy war mir ein Begriff, kam regelmässig in Klatschspalten vor, Bayreuth hier, Wiener Opernball da und was es sonst noch alles so gibt, um sich in den Scheinwerfern der Öffentlichkeit zu sonnen, aber Wedel??

Dann dämmerte es langsam: Pianist, richtig, hatte ich nicht sogar zwei oder drei CD´s von ihm? Wahrscheinlich sogar, nur schaute ich beim Hören von Pianokonzerten weniger auf den Pianisten sondern darauf, welche Stücke er spielte, ich bin eben nur ein laienhafter Genießer klassischer Musik, käme nie auf die Idee, etwas anderes von mir zu behaupten.

„Ist das nicht der, der sich vor Jahren plötzlich aus dem Musikgeschäft zurückgezogen hat, weil er sich mit van de Rose verkrachte?“

„Richtig und jetzt wohnt er im Ostwestfälischen und gibt nur noch Privatkonzerte für Gräfin Esterházy. Er will mit mir über die Videodigitalisierung seiner berühmt gewordenen Chopin-Etüden Einspielung sprechen und ich kann Dich als meinen Assistenten mitbringen“.

Na schön, warum nicht, hörte sich alles etwas skurril an, aber einen bekannten oder ehemals sehr bekannten Künstler kennen zu lernen schien mir durchaus reizvoll.

So standen wir abends vor einem großen Gittertor, Georg klingelte, das Tor öffnete sich automatisch, vorbei an dunklen Koniferen, wir klingeln an der Haustür, auch sie wird automatisch mit einem Summen zum Öffnen freigegeben, wir treten ein.

Was sofort auffällt ist das großformatige Ölbild im Entréebereich zum Salon: eins der Seerosenbilder Manets, Manets?, nein Monets, ich verwechsle die beiden ständig, jetzt nur keine dummen Sachen sagen und als Kulturbanause dastehen!

Wir treten in einen großen Raum mit einer langen Glasfensterfront, an der gegenüberliegenden Wand mehrere schwarze Sofas und am Ende des Raumes, auf einer Art Sockel, alles beherrschend ein Flügel, daneben in einem Sessel, ein Herr schwer bestimmbaren Alters, kastanienbraunes, nach hinten gekämmtes Haar, die Schultern leicht vorgebeugt, die Hände einander haltend: das musste Wedel sein.

„Nun“, rief er, „hast Du den Weg wieder einmal zu mir gefunden, teurer Freund.“

„Ich halte mich allein an die Abmachung: nur Du rufst mich an!“

„Gut so! Wen hast Du denn da mitgebracht? Junger Mann, haben Sie den Manet über der Tür gesehen?“ und grinst mich an.

Mir fällt nichts besseres ein als:

„Wissen Sie, in vielen Dingen bin ich nur eine Art Banause, ich dachte zunächst, es sei ein Seerosenbild Monets, lasse mich aber durch sie, Maestro, gerne eines besseren belehren!“

„Ha, hast Du das gehört, Georg, was hast Du mir denn da für einen Stutzer mitgebracht, noch keine zehn Sekunden hier im Salon und wagt es schon mir zu widersprechen! Aber dein Freund hat den Test bestanden! Ich mache das mit jedem, der mich zum ersten Mal besucht, damit ich weiß, mit wem ich es zu tun habe, denn es gibt drei Kategorien Menschen: Pöbel, Bewunderer und das Genie. Sie junger Mann, dürfen sich zu den Bewunderern zählen.“

Na da war ich ja sehr froh, dass mir diese Ehre zuteil wurde, sagte aber nichts, versuchte zu lächeln, was Wedel nicht bemerkte, da er begonnen hatte, sich etwas umständlich aus seinem Sessel zu erheben, ging dann auf den Flügel zu und wandte sich an mich:

„Wissen Sie, was das hier ist, junger Mann?“ und hob bei der Frage sehr energisch seine Stimme.

„Ein Flügel?“ stotterte ich leicht.

„Ein Flügel sagen sie, ein Flügel? Mein Herr, das ist kein Flügel, das ist ein Steinway, das ist etwas ganz anderes als ein Flügel: ein Steinway, Steinway, mein Herr! Das heisst Perfektion, das heisst Himmel, Paradies! Aber es gibt ja genug Banausen, die den Unterschied zwischen einem Steinway und etwas gewöhnlichem noch nicht einmal hören: Pöbel eben.“

Er ging langsam um den Flügel herum, setzte sich auf die davor stehende Klavierbank, klappte den Deckel auf und fing an mit seinen Fingern zu flattern, so als wolle er diese ein wenig geschmeidiger machen.

„Ich habe Tasten aus Elfenbein, hatte eigens nach Hamburg telefoniert, dort weiß man mich zu schätzen und ist meinem Wunsch selbstverständlich nachgekommen. Ich brauche das besondere und werde nie Repräsentant der Masse oder des Gemeinen sein. Alles gleichmachen, runtermachen. Fußballstadien, ja, meine Herren, das lassen sie bauen, größer und größer: Amphitheater unserer Zeit, Tempel der Geschmacklosigkeit.“

Plötzlich stürzen seine Hände hinab und beginnt er zu spielen: Rachmaninow, zweites Klavierkonzert, beginnt aber nicht vorn, sondern mittendrin, dieses tamm, tatata, tamm, diese gewaltige Auflösung der vorher so höchst zugespitzt aufgebauten Spannung! Mir läuft eine Gänsehaut über den Rücken, bin zutiefst fasziniert über die Kraft des Ausdrucks, es ist mir, als ginge die Musik mir direkt ein und packte mich unwiderstehlich , dann das Hinübergleiten vom „tamm“ ins feine Schweben über den Tasten; mir steigen Tränen auf. Dabei wiegt Wedel seinen Kopf, den ganzen Oberkörper so selbstverloren, so selbstvergessen, mit allen Zeichen innerer Entzückung auf seinem Gesicht, dass ich ihn zugleich bewundere und beneide.

So abrupt wie er begann, so abrupt setzt er ab, noch ein leises Lächeln auf den Lippen, niemand sagt etwas, Georg und ich warteten und wagen nicht etwas zu sagen, so als müsse Wedel aus einer Art Trance erwachen.

„Van de Rose, es ist seine Schuld, dass ich aufhörte“, flüstert er, „er konnte mich nicht leiden, er hatte Angst vor mir, ja, jawohl: Weil ich kein Kriecher bin, wie alle in seinem Orchester, ducken sich weg, ich aber habe im ins Gesicht geschrieen: so spiele ich das nicht, ich bin doch nicht ihre Marionette! Von dem Tag an, hat er alles getan, um mich lächerlich zu machen, Journalisten angeheuert, die schlechte Kritiken schrieben, alle bestochen: den Rundfunk, das Fernsehen, alle und als dann Grammophon den Vertrag nicht mehr verlängern wollte, wusste ich, was ich zu tun hatte. Die Pistole lag bereit.
An jenem Abend kam die Gräfin zu mir nach Hause, ohne Anmeldung. Als ich ihr von meinem Entschluss erzählte, warf sie sich vor mir auf die Knie, nahm meine Hände und küsste sie unter Tränen.
Meine Herren, ich habe viele Frauen „geliebt“, wie man so sagt, ich musste nicht suchen, sie kamen zu mir, ich musste allein wählen und wenn es zwei waren, so unterließ ich selbst das, sie verstehen, nehme ich an.
Aber als die Gräfin unter Tränen vor mir kniete, da fasste ich einen Entschluss: ich würde mir keine Kugel durch den Kopf jagen, nein, aber ich würde künftighin entsagen, meine Keuschheit als Opfer und Medizin, um rein und klar einzutreten in die höchste Sphäre der Kunst an der Musik.
Mich lösen vom irdischen, das doch immer nur klein und widerwärtig, wenn man genau genug hinschaut, hinauf in das Himmelreich der Musik.
Das war und ist meine Aufgabe, die einzige Aufgabe, die mir hier auf diesem jämmerlichen Planeten noch verbleibt.
Ich konnte ihn riechen, den Schoß der Gräfin, wir waren beide bereit, aber ich teilte ihr meinen Entschluß mit. Sie umarmte mich, küsste mich und rief, sie werde mich ihr Leben lang verehren und meine Musik lieben. Sie gehört zu den Auserwählten, denen ich noch ein Konzert gebe.“

Georg und ich standen noch immer an der Stelle, an der wir beim Eintreten stehen geblieben waren, Wedel hatte uns weder die Hand gegeben noch sonst wie begrüßt, alles was wir an Bewegungen bisher ausgeführt, war uns leicht nach links zu wenden, um seinem Klavierspiel besser folgen zu können.

Wedels Gesicht sah jetzt erschöpft aus, als er fortfuhr, an mich gewand: „Kennen sie Schopenhauer, mein Herr? Einer der ganz, ganz wenigen Autoren, die ich überhaupt noch zur Hand nehme. „All unser Übel kommt daher, daß wir nicht allein sein können.“ hat er geschrieben und recht hat er. Ich habe der Lust am Fleische abgeschworen, um mir die Pforte in den Himmel der Musik ganz zu öffnen.
Ich weiß, die Gräfin leidet, ich habe ihr dieses Opfer gleich mir auferlegt, damit sich ihr Geist öffne und lerne, die Ewigkeit schon auf Erden zu atmen!“

„Wieso Opfer, Herr Wedel, ich habe erst letzte Woche im neuen Adelsbrief gelesen, dass sie Hand in Hand mit einem Bürgerlichen gesehen wurde, irgendein Schriftsteller, glaube ich.“

Wedel starrt mich an, ich hatte zunächst den Eindruck, als sei er rot geworden, dann aber fast leichenblass, er hebt seinen rechten Arm, zeigt mit seinem Zeigefinger auf mich, der leicht zu zittern scheint und schreit:

„Was, was sagen sie da, sind sie von Sinnen, wollen sie hier impertinent werden, sie geistiger Gnom, wollen sie die Gräfin in den Dreck ziehen, sich lustig machen über unsere heilige Liebe und Hingebung aneinander. Wer sind sie Wurm, dass sie es wagen, hier in meine heiligen Hallen einzudringen und mich und die Gräfin in übelster Form zu beschimpfen, sie Dreck, sie nichts.“ Da muss er stoppen, denn das Crescendo seiner Stimme hat sich derart überschlagen, daß nun ein heftiger Hustenanfall folgt. Er beugt sich vornüber und hält sich mit der rechten Hand den Hals, fast als müsse er erbrechen.

„Franz-Joseph“, ruft Georg, „ich bitte dich, mach doch meinen Freund nicht verantwortlich für das, was nichts anderes als Schmierenjournalismus, ich bitte Dich!“

Es dauert Minuten, bis Wedel sich langsam wieder erholt, nur krächzend bringt er heraus:
„Ich weiß, ich weiß, daß die Gräfin nur mich liebt, niemand sonst, sie ist mir ergeben, sie verehrt mich und würde mich nie für einen schnöden Schmierlappen hintergehen, ich weiß das. Gib mir das Telefon, Georg“ und mit zittrigen Fingern ruft er an

„Besetzt, seit drei Tagen immer nur besetzt, besetzt! Angerufen hat sie mich auch nicht!“
Fast stöhnend ruft er: „Susanna, meine Susanna, was tust Du mir nur an.“, er starrt lange regungslos vor sich hin und dann, erst langsam aufquellend, stärker werdend, zum Strom sich formend, rollen große Tränen über seine Wangen. Es kommt mir so vor, als hätte er Jahre nicht mehr geweint, eine Flut von Tränen, die er zunächst wegwischt, doch dann ganz frei laufen lässt, es durchschüttelt seinen Oberkörper, er wirft den Kopf zurück, wirft sich vor und weint und weint.

Behutsam tritt Georg an ihn heran, setzt sich zu ihm auf die Klavierbank und nimmt ihn zärtlich in den Arm.

Ich weiss nicht mehr wie lang, aber es kam mir lange vor, dann ist nur noch Stille, ich höre meinen eigenen Atem, da setzt sich Wedel wieder ans Klavier und beginnt erneut zu spielen.

Schumann „Des Abends“ aus Fantasiestücke op.12. Konzentriert, zärtlich, seelenversunken.

Und ganz von vorn.