Sonntag, 12. November 2023

Odysseus, Folge 1

 

Auftakt


Muse, Du Göttin der Künste
Tochter des Zeus,
Muse, singe uns von jenen Taten
des ideenreichen Odysseus,
der so weit geirrt,
nachdem Troia zerstört
und er es verließ.

Er sah die Städte so vieler Völker,
lernte sie kennen,
litt die Qualen des salzigen Meeres,
kämpfend um seiner Seele Heil
und seiner Kameraden.

Er scheiterte, 
rettete die Freunde nicht
trotz all seinem Mühen,
bereiteten sie doch 
selbst ihr Verderben:
Schlachten die Rinder
des Sonnengottes Hyperion:
Oh, verloren ward ihr, Kameraden!

Muse, Tochter des Zeus,
erzähle uns 
und singe,
beginne wo immer Du willst.

Die Nymphe Kalypso

All die, die den Krieg überlebten,
waren heimgekehrt,
hatten überwunden die Gefahren
des Krieges und Meeres.

Odysseus allein ward gehindert 
zurückzukehren zur Frau, der Geliebten:
Kalypso, die Nymphe,
hielt ihn in ihrer gewölbten Grotte
und wünschte sich, ihm zu vermählen.

Selbst als das Jahr anbrach, 
das die Götter bestimmt
zu seiner Heimkehr nach Ithaka,
gelang es ihm nicht sich loszulösen.

Mitleid ob solchen Loses
erfüllte die Götter,
Poseidon aber verfolgte ihn weiter
mit nicht enden wollender Bösartigkeit.

Aigisthos

Als Poseidon jedoch zu Besuch bei den Äthiopiern,
in jenem weit entfernten Teil der Welt,
deren eine Hälfte dort, wo die Sonne untergeht,
deren andere, wo sie sich erhebt,

hatte er angenommen ein Opfer
aus Stieren und Widdern
und saß dort, vom Fette triefend, 
sie zu verzehren.

Die übrigen Götter aber
hatten sich versammelt
im Palast des Olymps
und Zeus, Vater der Menschheit und Götter,

gedachte des hübschen Aigisthos,
den Orest, des Agamemnons Sohn,
getötet und mit Aigisthos im Sinn 
wandte er sich an die versammelten Unsterblichen :

"Wie erbärmlich ist es," rief er ihnen zu,
"dass die Menschen uns Götter anklagen,
uns sehen als die Ursache des Übels,
im dem sie hausen, wo es doch 
ihre Übertretungen sind, die sie ins Elend stürzen,
Elend, das nicht von uns Göttern bestimmtes Schicksal war.

Denkt an Aigisthos :
Es war nicht sein göttliches Schicksal, Agamemnons Frau zu verführen,
und ihn, Agamemnon, ihren Ehemann nach der Rückkehr vom glorreichem Kampf
zu morden, als dieser arglos sein Gewand wechselnd, den Rücken ihm zugewandt.

Er wusste: nichts als Desaster wäre die Folge,
denn wir hatten ihm Hermes gesandt,
den Götterboten, ihn zu warnen
und weder zu töten, noch zu verführen!

Denn Orest, das sagte ihm Hermes, 
würde den Vater, Agamemnon,
rächen, sobald erwachsen 
und es ihn zurück in die Heimat drängte.

Doch folgte Aigisthos nicht
dem göttlichen, freundlichen Rat
und zahlt nun den letzten und höchsten
Preis für sein sündiges Leben."

Die Rede der Göttin Athene

Athene, die Göttin der leuchtenden Augen,
antwortete Zeus: Du, unser Vater, Sohn des Kronos, König der Könige,
des Aigisthos Tod ist das, was er verdiente,
allen das gleiche Los, die so handeln wie er!

Doch das Elend des weisen Helden Odysseus
bedrückt mein Herz, so lang schon getrennt von den Seinen,
sich verzehrend vor Sehnsucht, weit weg auf einsamer Insel,
gefangen in gewölbter Grotte, umspült vom Meere.

Die Insel ist schön, bewaldet und
eine Göttin lebt dort, Tochter des arglistigen Atlas,
der die Tiefen der Seen kennt und trägt die Säulen des
Himmels.

Seine Tochter, die den Unglücklichen gefangen hält:
sie schmeichelt ihm, umsäuselt ihn
mit sanften überredenden Worten,
Tag für Tag,

und Odysseus, der alles geben würde,
nur den Rauch der Hütten seiner Heimat
zu sehen, bleibt nichts als sich zu wünschen
die Freiheit.

Doch dein olympisches Herz, oh Zeus,
bleibt ungerührt!

Sag mir: All die Opfer, denen Odysseus
sich unterwarf auf den Ebenen Troias
finden keine Gunst und Erbarmen bei Dir?
Warum zürnst Du Odysseus?