Mittwoch, 21. Dezember 2016

Der Weihnachtsbrief, Teil 1!


Wann kam der Brief? Heute war er nicht im Briefkasten! Wurde an Heiligabend Post zugestellt? Ja, auch Heiligabend wurde zugestellt, er konnte also morgen im Briefkasten sein.

David hatte ihr wegen etwas Wichtigem geschrieben! Das hatte er kurz vor dem Ende des Skype-Gesprächs gesagt, bis dann sein australischer Bekannter hereinkam, sie müssten jetzt wirklich los! Sein Geschenk hatte sie schon,  einer seiner Freunde hatte es ihr übergeben, der im Gegensatz zu David nicht die Weihnachtsfeiertage in Australien geblieben, sondern zurückgekehrt, 14 Tage, um mit seiner Freundin und seiner Familie zu feiern! Eine Uhr mit einem Känguru auf dem Ziffernblatt. Sie hatte sich darüber nicht sonderlich gefreut, nicht einmal eingepackt war es gewesen, „teuer“, hatte er gesagt, als wenn das von Wert für sie gewesen!

David war in Australien und morgen war Heiligabend. Sie hatte alle Einladungen ausgeschlagen. Sie wollte nicht und konnte nicht die Stadt verlassen, bevor sie den Brief gelesen hatte. Sie hatte David gezürnt wegen seiner Australienreise. Sie hatte daran gedacht, für einen Moment, ob es nicht besser sei, sich zu trennen - weniger als einen Moment, denn sie liebte, sie liebte aus ganzem Herzen und mit ganzer Kraft! Schließlich hatte sie sich überzeugt, die Trennung habe sogar etwas Gutes: David und sie konnten für sich herausfinden, klar und deutlich, ob sie für immer zusammengehörten, so hatten sie es besprochen!

Den Nachmittag verbrachte sie damit, ein Café zu suchen, denn sie wollte unter Menschen sein, wenn sie morgen den Brief bekäme und dort lesen. Sie fand eines, modern, vermutlich Heiligabend eine große Zahl derer beherbergend, denen Weihnachten nichts mehr sagte oder die der  Sentimentalität entfliehen wollten, um sich mit Gleichgesinnten zu amüsieren, zu betrinken, statt des Jesuskindes und des Lichtes für die Menschheit in Dunkelheit zu gedenken. Es durfte geraucht werden, gekifft, was ihr missfiel, aber sie fand kein besseres Café!

Am nächsten Vormittag sah sie vom Schreibtisch aus die Postbotin mit ihrem Fahrrad zum Nachbarhaus fahren. Sie zog sich ihre Jacke an, hängte die vorbereitete Tasche um und ging nach unten. Ein dünner leichter Luftpostbrief lag im Briefkasten: sie zog ihn zwischen  Weihnachtsgrüßen hervor, steckte ihn in die Seitentasche über ihrem Herzen, so wie sie es sich vorher überlegt, denn es würde Glück bringen, und ging zum Fußweg, der zur Straße führte.

Sie musste nicht direkt ins Café, sie hatte den Brief ja, vielmehr wollte sie sich beruhigen, noch einmal stark und mit ihrer ganzen Liebe an David denken. Das Wetter war mild, die Luft frisch, der Himmel bewölkt, aber es würde vermutlich nicht mehr regnen.

Sie fühlte den leichten Wind auf ihren Wangen, was gut tat und spürte beim Gehen, dass ihr Stumpf schmerzte: Sie hatte ihn seit Tagen nicht mehr eingecremt und angemessen gepflegt! Das hatte David sonst fast jeden Abend getan, liebevoll und zärtlich, wie nur er es konnte, sie selbst nicht! Ihr Stumpf war wund und darum hinkte sie leicht, aber es war ihr gleichgültig.

Am ersten Abend, als er mit ihr nach Hause gegangen, hatte er die Prothese genommen, den Schuh abgestriffen und das Hosenbein hochgeschoben. Er war weder besonders erstaunt, noch zeigte er irgendeine Art des Ekels, er fragte nur, ob er die Prothese abnehmen dürfe. Dann hatte er über ihren Stumpf gestreichelt, gefragt, ob es ihr gut täte, wenn er mit seinen Fingerspitzen darüber fuhr. Sie hatte ihm die Salbe gereicht, die sie zur Pflege benutzte, er massierte und strich dann über ihren heilen, vorhandenen Schenkel. Er öffnete den Knopf, sie hob ihr Becken und im Traum der Wirklichkeit vereinigten sie sich, so nannte sie es, und begann zu winden und zucken und all ihr Wollen wurde zur Lust. Sie spürte auch jetzt im Gedanken Glut aufsteigen und hätte nach ihm schreien mögen, aber David war in Australien!

Sie hatte aber seinen Brief!